Ludwigs
Burg
Festival

Die Präsenz der Unterrepräsentierten

Über Komponistinnen

Ein Beitrag von Susanne Wosnitzka

»In vielen Branchen sind Frauen auch heute noch unterrepräsentiert. Für die Musik gilt diese Tatsache eigentlich nicht. Denn zu keiner Zeit in der Geschichte fehlte es an Musikschöpfungen oder kulturellem Handeln des weiblichen Geschlechts. Trotzdem gibt es eine ganze Welt an unterschlagener Musikgeschichte, die sich in der dürftigen Bekanntheit von Virtuosinnen widerspiegelt. Dabei kommt man auf der Suche nach großartigen Komponistinnen z. B. an Emilie Mayer nicht vorbei. Doch wie kommt es, dass eine zu Lebzeiten so arrivierte Musikerin schon kurz nach ihrem Tod in Vergessenheit geraten ist, viele ihrer männlichen Kollegen aber nicht? Und wie ist es möglich, dass ihre Werke innerhalb kürzester Zeit aus dem Konzertbetrieb verschwanden und erst im 21. Jahrhundert wiederauftauchen? Von diesen Fragen bewegt, positioniert das ensemble reflektor Mayer genau da, wo sie hingehört: in eine Reihe mit ihren großartigen Kollegen.« 


So der Teaser zum eclipse-Programm des ensemble reflektor, das am 1. Juli auch im Rahmen der Ludwigsburger Schlossfestspiele gegeben wurde. Emilie Mayer (1812–1833) passt in diesem Programm hervorragend zu Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847) und Henry Purcell (~1659–1695). Und der Großartigkeit ihrer Werke nach in viele, viele andere Programme. Es passt auch deshalb zum großen Felix Mendelssohn Bartholdy, weil dieser eine durch die feministische Musikwissenschaft mittlerweile sehr gut erforschte Schwester – Fanny (1805–1847) – hatte, die ihn durch ihr Genie, ihr technisches Niveau und ihre Brillanz auf seiner Reise durch England und Schottland zu Tränen rührte: In dem Erkennen, dass es wohl doch die reinste Verschwendung und ein Fehler war, ihre Werke der Öffentlichkeit vorzuenthalten.


Dieses Entsetzen hatte auch einst den Musikkritiker Marc Blitzstein erfasst, als er 1960 erstmals ein Werk der französischen Komponistin Lili Boulanger (1893–1918) auf Schallplatte hörte: »Wann können wir ihre Werke endlich regelmäßig in unseren Konzertsälen hören? Wir möchten wissen, was uns all die Jahrzehnte entgangen ist!« Zwar sehr krank bereits früh gestorben, hatte ihre Schwester Nadia (1887–1979) unermüdlich dafür gesorgt, dass die Werke ihrer kleinen Schwester regelmäßig aufgeführt werden. Dadurch – und später ebenfalls durch die Bestrebungen der Frauenmusikgeschichtsforschung – hatte Lilis Musik in Paris bereits einen Nährboden. Vielfach wurde dieser Nährboden jedoch entzogen, weil auf das Geschlecht und die dazugehörenden auferlegten Rollen entweder reduziert (bei Frauen) oder gehypt wurde (bei Männern). Woher kam das? Werfen wir den Blick noch weiter zurück. 


Wenn etwas nicht vorhanden ist, heißt das noch lange nicht, dass es das nicht auch gegeben hat oder gegeben haben könnte: Von Sappho, der großen griechischen Dichterin, die um 600 v. u. Z. lebte, haben sich nicht nur Texte und Textreste, sondern auch winzige Notenfragmente erhalten. Etwas mehr gibt es dann in der Zeit ab 800 n. Chr. Denn dann setzte allgemein eine Verschriftlichung ein: War zuvor die Musik v. a. in den Klosterschulen und an den Kirchen mündlich weitergegeben worden, ging das nicht mehr reibungslos, weil die Musik so kompliziert wurde, dass man sie aufschreiben musste. Patriarchale Konstrukte – die Glaubensfindung und Glaube massivst beeinflussten und ältere Glaubensrichtungen auch zerstörten – brachten u. a. diesen Textbaustein »mulier taceat in ecclesia« (»die Frau schweige in der Gemeindeversammlung/Gemeinde/Gemeinschaft«, 1. Korintherbrief 14,34) hervor, der Frauen zum Schweigen brachte. Nicht nur das gesprochene Wort, sondern die Negierung gleichberechtigter Teilhabe. Noch dazu wurde die Frau laut Bibel erst nach Adam erschaffen und war ihm somit in allem nachgestellt. Es gab auch große weibliche Stimmen, die aufgrund dieser Rollenzuschreibungen im Verhältnis selten blieben. Als offiziell erste Komponistin, von der auch umfangreichere Werke vorhanden und bis heute in der griechisch-orthodoxen Religion genutzt sind, gilt Kassia (~810–~865), die als Äbtissin in Konstantinopel wirkte. Uns eher bekannt ist Hildegard von Bingen (1098–1179), aus deren Feder sich das erste bekannte westliche abendfüllende Singspiel der Welt, Ordo Virtutum (Das Spiel der Mächte/Kräfte), erhalten hat. 


In der Renaissance entstanden die sogenannten concerti delle donne: Frauenensembles, die die Ideen der Renaissance, der Wiedergeburt des griechischen Theaters (oder was man dafür hielt), umsetzten: Sie brachten menschliche Affekte wie Trauer, Wut, Freude etc. auf die Bühnen und waren mitverantwortlich für die Entstehung der Opern und wegbereitend für die heutige Pop-Musik. Auch wenn Sie als Leser*in noch kein concerto delle donne gehört haben, so erinnern Sie sich vielleicht doch an die legendären Spice Girls, die es 1996 in über 30 Ländern auf Platz 1 der Charts geschafft hatten. Sie sind im Grunde genommen Nachfahrinnen dieser Wegbereiterinnen.


In der Barockzeit erhöhte sich die Anzahl komponierender Frauen, die fundiertere musikalische Ausbildungen erhielten und die Macht hatten, sich ihre Höfe selbst zu gestalten. Man kennt an komponierenden Prinzessinnen z. B. Wilhelmine von Bayreuth (1709–1758), Schwester von Friedrich dem Großen (1712–1786), deren Opernhaus heute UNESCO-Welterbe ist. Oder Anna Amalia von Preußen (1723–1787), weitere Schwester von König Friedrich dem Großen, die so großer Fan von Johann Sebastian Bach war, dass sie alles zu ihm sammelte. Ihre Bibliothek ist Grundstock dafür, warum man heute so viel Musik von Bach kennt. Dies alles waren privilegierte Frauen, die über Geld und Macht verfügten aufgrund ihres Standes. Ihre Musik war es wert, aufgeschrieben, gesammelt und archiviert zu werden. Ihre Werke wurden ausschließlich an ihren (privaten) Höfen zu bestimmten Anlässen gespielt. Viele bürgerliche Frauen mit solchen Ambitionen und Begabung hatten dieses Glück, mit ihren Werken in der Welt zu bleiben, nicht. Und schon gar nicht, aufgeführt zu werden. Denn eine Kapellmeisterin, die ein Orchester an der Hand hatte, durften sie nicht werden, weil es sich für Frauen nicht schickte, sich so im Licht der Öffentlichkeit zu präsentieren. Emilie Mayer hatte es als eine der Wenigen geschafft – weil sie Unterstützung durch von ihrem Können begeisterten Männern in entsprechenden Posten hatte. Ihr lange verschollenes Grab ist heute ein Ehrengrab der Stadt Berlin


Um 1900 hatte die Psychologie einen großen Anteil an der Negierung weiblichen Schaffens. Otto Weininger (1880–1903) äußerste sich in seinem Buch von Geschlecht und Charakter (Wien 1903) Folgendermaßen: »Genialität offenbart sich bereits als eine Art höherer Männlichkeit; und darum kann W [können Frauen] nicht genial sein.« Der bekannte Musikkritiker Eduard Hanslick (1825–1904) hielt sich ebenfalls nicht zurück und schrieb dazu: »Es fehlt den Frauen geradezu an schöpferischer Phantasie, an der angeborenen Mitgift und Grundbedingung selbstständigen musikalischen Schaffens.« 

Zur verheerenden Situation der Komponistinnen trug auch der Erste Weltkrieg bei, der das Kulturleben zum Erliegen brachte, als auch danach die NS-Zeit, die Frauen aus den schaffenden Sphären hinausdrängte. Die Frau hatte Soldaten für Hitler zu produzieren und nichts anders. Erst durch die immens zähen, hartnäckigen und auch belächelten Bestrebungen der Zweiten Frauenbewegung ab 1968, die ihre eigene Geschichte wiederentdecken wollte, gelangte auch das Schaffen von Komponistinnen und Dirigentinnen wieder in den Fokus. 
 
Aktuelle Zahlen zu Komponistinnen in Kulturbetrieben zeugen leider noch immer von dieser langen Tradition des AusschlussesIn einer Studie von musica femina münchen und des Archivs Frau und Musik hatten sie in der Saison 2018/19 einen Anteil von unter 2 % in den rund 130 deutschen und großteils staatlich geförderten Profi-Orchestern. Die Corona-Pandemie sorgte für weitere Einbrüche. In den USA schaut es aktuell wesentlich erfreulicher aus mit nun rund 22,5 %. Bis heute haben wir in Deutschland keine paritätischen Schulmusikbücher. Komponistinnen sind höchstens nur in Nebensätzen als »Frau/Geliebte/Schwester/Muse von ...« in Nebensätzen erfahrbar, aber nicht als eigenständige Persönlichkeiten mit eigenen herausragend schönen Werken. Dabei geht es doch nur um gute Musik. 
 

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