Ludwigs
Burg
Festival

»Die Realität hat die ursprüngliche Idee überholt«

Michael Rauter spricht über die dreijährige Arbeit an seiner Pixelsinfonie

Mit den Klängen seiner 6. Sinfonie, der »Pastorale«, holte Ludwig van Beethoven die Sehnsucht nach der Natur, das Außen, in Form von Wasser, Wetter, Tieren und Pflanzen nach Hause. Sein Werk hat im Frühjahr 2020 unerwartete Aktualität bekommen, denn die Corona-Pandemie erfordert seitdem weltweit einen Rückzug ins Private. Während das Virus eine wochen- und monatelange Begegnung mit sich selbst erzwingt, gewinnt die Vorstellung einer Welt, die draußen liegt und der wir gleichzeitig alle angehören wieder enorm an Bedeutung.


Im Folgenden berichtet der Komponist Michael Rauter über die Entstehung und Umstrukturierung seiner Pixelsinfonie. Dazu hat der Programmierer Peter Ulrich eine Online-Installation erstellt, in der 32 Filme simultan, aber auch einzeln, zu sehen sind. Hat man das Stück gestartet, kann man weder vor noch zurück spulen. Nach einem Durchlauf kann man sich wiederum für eine neue Perspektive entscheiden. 


Das Projekt wurde von der Ruprecht-Stiftung und dem Freundeskreis der Ludwigsburger Schlossfestspiele gefördert.

 

Geplant war ein Musiktheater im Hotel …


Dafür habe ich die Sinfonie in viele kleine Fragmente zerschnitten und mit meiner Musik zusammenfügt. Konkret sollten dann insgesamt 30 Musiker*innen die minimale Besetzung für Beethovens Pastorale bilden. Dazu gekommen wären noch ein Dirigent und drei Performer*innen. Die Musiker*innen wären über 30 Hotelzimmer mit offenen Fenstern, das Foyer und die Flure verteilt gewesen. Diese Zimmer hätten besucht werden können, um dann den Musiker isoliert als Solisten zu hören. Gleichzeitig hätte man draußen vor der Fassade die Summe der Komposition als Orchesterstück gehört. Zur Hälfte die Pastorale, zur Hälfte eine Neukomposition.


Das ganze Stück war als Auseinandersetzung zwischen dem Verhältnis von Mensch und Natur gedacht. Daher kam auch das Interesse für die 6. Sinfonie. Im Speziellen ging es darum, eine kompositorische und inszenatorische Auseinandersetzung mit dem Wetter zu kreieren. Der zentrale Satz bei Beethovens Pastorale ist ja das Gewitter. Das Stück dann gerade an einen Ort der maximalen Isolation, wie in ein Hotelzimmer zu bringen, fand ich besonders reizvoll für diese thematische Auseinandersetzung.


…dann folgte eine extreme Umstrukturierung:


Die Situation war ziemlich heftig, da eineinhalb Monate vor der Premiere — kurz vor Probenbeginn und Fertigstellung der letzten Details — klar wurde, dass das Projekt so nicht mehr stattfinden würde. Bis dahin hatte ich fast drei Jahre daran gearbeitet. Und schlagartig konnte es nicht mehr stattfinden. Ich hatte aber eine Energie erzeugt, die ich irgendwie verarbeiten musste. Da es in meinem Stück von Anfang an um die Isolation ging, gab es direkt wieder so viele Verbindungen, die zweifellos dazu geführt haben, aus dem bestehenden Material etwas Neues zu schaffen.


Durch die Aufforderung des Social-Distancing wurde zunächst eine Streaming-Variante diskutiert, die dann aufgrund technischer und logistischer Umstände verworfen wurde. Es entstand letztlich ein Filmprojekt. Eine 100-minütige Performance, in der die Musiker*innen und Performer*innen einzeln vor der Kamera stehen. Abschließend sollten diese Filme zusammengeführt und als Pixelsinfonie auf einer Website präsentiert werden.


Das Verhältnis von Mensch und Natur war in dieser Situation so deutlich vor Augen geführt, dass ich damit auch so umgehen wollte. Da es nicht mehr möglich war, vorrausschauend zu planen, bekam das Projekt noch eine weitere Corona-ähnliche Dimension dazu. Gleichzeitig drängte die Zeit und wir haben angefangen, ganz viele Dinge parallel zu bearbeiten. Die Dreharbeiten begannen, und gleichzeitig habe ich Beethovens Vorlage neu arrangiert, neue Musik komponiert und die Performances entwickelt. Die Proben fanden über Zoom statt. Und obwohl alle Musiker*innen wirklich nur zwei Proben hatten, war ich über vier Wochen den ganzen Tag beschäftigt. Da ich mit den Proben beschäftigt war, konnte ich den Dreh nicht begleiten. So ist das Stück irgendwie auch in der Ferne entstanden und wirklich ein Produkt, das in all seinen Facetten die Auswirkungen der Pandemie widerspiegelt.


Die Situation wird zum Inhalt:


Die augenblickliche Situation ist der Inhalt des Projekts. Beginnen wir mit dem Räumlichen: Ursprünglich war geplant, dass alle Musiker*innen zusammen proben und das Stück gemeinsam auf die Beine stellen. Jetzt gab es Einzelproben und Einzelaufnahmen. Das war eine totale Veränderung des Konzepts. Ein maximales Extrem. Die Thematik war schon in der Hotel-Fassung gegeben. Letztendlich hat die Pandemie den Fokus verschoben und die Fragilität der Beziehung zwischen Mensch und Natur drastisch hervorgehoben. Das Virus hat uns maximal gezeigt, dass die Trennung zwischen Mensch und Natur eine illusorische Vorstellung ist. Das hat für mich dazu geführt, dass es noch stärker darum ging, die Natur in und bei uns zu suchen als außerhalb, wie zum Beispiel beim Wetter oder bei Naturphänomenen. Es hat eher dazu geführt, dass das Stück eine Auseinandersetzung mit uns selbst ist. Und dass diese Auseinandersetzung bedeutet, auf sich selbst angewiesen und zurückgeworfen zu sein. Es ging darum, sich dieser Tatsache zu stellen und zu merken, dass die Natur in uns selbst ist. Erst dann kann man den Blick schärfen, wieder nach Außen werfen und etwas erkennen. Die Pandemie hat die Pixelsinfonie stark beeinflusst, denn ihre Entstehung beruht auf einer Wechselwirkung mit der Realität.


Ausblicke auf eine neue Produktion:


In der neuen Fassung sind insgesamt 32 Filme zu sehen, die auf einer Website zugänglich gemacht werden. Es gibt einen Film über den Dirigenten Miguel Pérez Iñesta und einen Film im Film, der von Ladislav Zajac, einem bildenden Künstler und Bühnenbildner aus Berlin, produziert wurde. Ladislav Zajac wäre im Hotel für das Licht zuständig gewesen. In seinem ursprünglichen Konzept hätten die Fernseher der jeweiligen Zimmer für die Beleuchtung gesorgt. Jetzt ist ein Film entstanden, der wiederum als visueller Lichtfaktor für alle anderen Filme dient. In 30 weiteren Filmen kommen gleichzeitig die Instrumentalist*innen vor, die Beethovens Pastorale und meine Komposition spielen.


Unter diesen Umständen sind die Filme der Musiker*innen folgendermaßen entstanden: Es wurde ein Playbacksoundtrack entwickelt, auf dem eine fragmentierte Orchesteraufnahme der Sinfonie von Beethoven zu hören ist. Dazu spricht eine elektronische Stimme, die wie ein Navigationssystem funktioniert und konkrete Anleitung gibt. Sie sagt den Musiker*innen, wie sie sich bewegen, wann und wie sie atmen sollen. Die Musiker müssen sich quasi nur noch darauf einlassen, wozu sie ihre Musik aber auch gut kennen müssen.


Für die Filme war es auch wichtig zu sehen, wie die Beteiligten sich bewegen. Deshalb haben wir jeweils einzeln geprobt. Die Filmarbeiten von 25 Musiker*innen — Mitglieder des Orchesters der Ludwigsburger Schlossfestspiele und Studierende der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart — à 125 Minuten fanden in Ludwigsburg statt. Weitere folgten in Berlin, wo Christina Voigt die fünf Instrumentalisten des Solistenensembles Kaleidoskop und den Dirigenten gefilmt hat.


Ausblick und Rückschau:


Beethoven und meine Komposition werden am Ende ganz anders klingen als erwartet, weil wir nie zusammen proben konnten. Dieser Ablauf hat mir klar gezeigt, dass das Musizieren im Ensemble digital nicht wirklich möglich ist. Denn das Wesentliche am Musizieren ist die direkte Kommunikation. Die größte Komplikation, die entstanden ist, war also wirklich die Distanz, weil man über Zoom nicht alles Nötige an ein Ensemble vermitteln kann. Auch habe ich davor noch nie mit dem Medium Film gearbeitet. Das wird ein ganz neues Erlebnis. Deswegen war es sowohl inhaltlich als auch in formeller Hinsicht ein groß angelegtes Experiment, mit dieser Situation umzugehen. Es war für uns schon eine künstlerische Forschungsarbeit, in der das Projekt ein Dokument dieser Situation ist. Eine Operation am lebendigen Körper.


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